Komplexität macht Angst, das ist neurobiologisch gut nachvollziehbar. Je mehr Cortisol in unserem Blutkreislauf zirkuliert, umso mehr Oxytocin ist notwendig, um dieses wieder abzubauen. Oxytocin wird als Bindungshormon gebildet, wenn wir in intensiven, emotional erfüllenden sozialen Kontakten sind. Führung muss darauf Rücksicht nehmen, will sie nicht die Mitarbeiter im Homeoffice mit Burnout-Symptomen verlieren.
Wenn uns die Covid-19-Pandemie eines aufgezeigt hat, dann ist es unser Umgang mit Krisen und Komplexität. Unser Verhalten in den letzten Monaten zeigt wunderbar auf, wie wir persönlich und im Unternehmen mit Krisen umgehen.
Was ist eine Krise?
Eine Krise ist eine schwierige Lage, Situation, Zeit (die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt); Schwierigkeit, kritische Situation; Zeit der Gefährdung, des Gefährdetseins, so der Duden.
Krisen sind darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass Sie eine Situation darstellen, die wir nicht kennen, in der viele Aspekte neu sind, manche noch gar nicht bekannt, Auswirkungen und Zusammenhänge unklar bleiben. Das gleiche gilt für Komplexität. Wir können somit eine Krise durchaus mit einer komplexen Situation vergleichen.
Krise = Komplexität + Angst
Corona ist beides: Krise und Musterbeispiel für eine komplexe Situation. In heftigen Krisen kommt dann auch noch eine Portion Angst (Angst vor der Krankheit, Existenzangst, Angst den Arbeitsplatz zu verlieren, ...) dazu, was den Umgang nicht einfacher macht. Es ist also auf eine einfache Formel zu bringen:
Krise = Komplexität + Angst
Dietrich Dörner beschreibt in seinem Buch Die Logik des Misslingens Komplexität in wunderbar einfachen Worten:
... dass ein Akteur in einer komplexen Handlungssituation einem Schachspieler gleicht, der mit einem Schachspiel spielen muss, welches sehr viele ... Figuren aufweist, die mit Gummifäden aneinander hängen, sodass es ihm unmöglich ist, nur eine Figur zu bewegen. Außerdem bewegen sich seine und des Gegners Figuren auch von allein, nach Regeln, die er nicht genau kennt oder über die er falsche Annahmen hat. Und obendrein befindet sich ein Teil der eigenen und der fremden Figuren im Nebel und ist nicht oder nur ungenau zu erkennen."
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Die Krise als System
Dörner beschreibt vier Eigenschaften von Systemen, die wohl in jedem Unternehmen – und sei es auch noch so klein – zu finden sind.
- Komplexität: Es sind immer mehrere handelnde Personen am Werk, aktiv steuern kann ich aber nur eine Person, mich selbst. Wir können das Verhalten anderer Personen nur indirekt steuern, indem wir unser Verhalten verändern. Selbst wenn ich andere Personen um ein konkretes Verhalten bitte, ist dies ein Verhalten von mir.
- Vernetztheit: Alle handelnden Personen sind direkt oder indirekt miteinander vernetzt. Es bestehen Abhängigkeiten durch Organisations- und Abteilungszugehörigkeit, Hierarchien, Verträge ... oder auch persönliche Interessen.
- Dynamik: Aufgrund der Eigeninteressen der handelnden Personen bewegt sich das System auch ohne unser Zutun.
- Intransparenz: Wir sehen nur selten das ganze System auf einen Blick, klammern oft wichtige Faktoren aus oder haben falsche Annahmen, die handelnden Personen und die Systemgrenzen betreffend.
Beschleunigung der Digitalisierung
Natürlich gelten diese Eigenschaften nicht nur für Unternehmen, sondern auch für die Unternehmensumwelt (Markt, Mitbewerber, ...), in der Mitarbeiter*innen sich zurecht finden müssen. Dietrich Dörner beschreibt nicht die Covid-19-Krise, sondern wie am Erscheinungsdatum des Buches zu erkennen ist, ganz normal komplexe Situationen.
Neu hinzu kommt nun, dass die Zusammenarbeit mehr und mehr über Distanz verläuft. Homeoffice und dezentrale Arbeit gibt es schon lange, durch die notwendige Distanz in der Pandemie wurde jedoch eine Entwicklung beschleunigt, die durch den Megatrend Digitalisierung schon vorgezeichnet war. Daher titelt dieser Artikel auch Digitale und virtuelle Führung, wenngleich der Titel der Tatsache nicht gerecht wird.
Führung ist immer real
Führung ist weder digital noch virtuell, Führung ist real, ob sie stattfindet oder auch nicht passiert, wie auch immer sie im Detail gelebt wird, die Wirkung auf die Mitarbeiter*innen ist real. Auch wenn das Medium, über das die Führungskommunikation läuft, digital ist.
Nichts in unserer Zusammenarbeit ist virtuell, die Fehler, die passieren, sind es nicht und auch die Erfolge nicht. Die Konflikte sind genauso real, als ob sie im Büro passieren würden. Vielleicht ist die Auswirkung sogar noch schlimmer, weil eine abmildernde Geste oder auch ein(e) deeskalierende(r) Kollege oder Kollegin fehlen.
Distanz erhöht die Komplexität
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Zu dieser Distanz kommt nun oben beschriebene Komplexität von Organisationen und Unternehmen. Ab da wird es schwierig, weil wir Menschen nicht mit Komplexität umgehen können. Der Hirnforscher John-Dylan Haynes spricht von zwei Herausforderungen, um mit Komplexität umzugehen:
- Erstens der Stationaritätsannahme: Wir Menschen nehmen an, dass es morgen genauso wird, wie es heute ist. Wie wir in der zurückliegenden Krise gesehen haben, ist das falsch.
- Und zweitens: Um mit Komplexität umzugehen, müssen wir extrem vereinfachen. Komplexität lebt aber von exponentiellen Entwicklungen, Ambiguität, Latenzen und Trägheit sowie unerwarteten Effekten. Eine repräsentative Auswahl zur Vereinfachung ist nahezu unmöglich. Vor allem aus dem Grund, weil wir in der Schule die Mathematik der Gewissheit und nicht die Mathematik der Ungewissheit lernen.
Wir können also Krise, Komplexität und Dynamik sehr schwer handhaben. Dies verursacht bei uns Unsicherheit und mit Unsicherheit kann wiederum unser Gehirn schwer umgehen.
Die Dynamik der Angst
Jegliche Form von Unsicherheit löst bei uns im Gehirn eine Vorsichts-, Angst- oder Panikreaktion aus. Diese wiederum löst die neurobiologische Stressreaktion aus, die die Aufmerksamkeit auf die Gefahr und die notwendige Energie für Angriff, Erstarrung oder Flucht bereitstellen soll.
- Als erster Neurotransmitter tritt Adrenalin in Aktion. Einmal ins Blut ausgeschüttet vermittelt Adrenalin eine Herzfrequenzsteigerung, einen durch Blutgefäßverengung bewirkten Blutdruckanstieg und eine Bronchiolenerweiterung. Das Hormon bewirkt zudem eine schnelle Energiebereitstellung durch Fettabbau sowie die Freisetzung und Biosynthese von Glucose.
- Für die länger andauernde Stressreaktion ist dann Cortisol zuständig. Es aktiviert katabole (= abbauende) Stoffwechselvorgänge und stellt so dem Körper energiereiche Verbindungen zur Verfügung. Seine dämpfende Wirkung auf das Immunsystem ist langfristig gesundheitsschädlich.
Stress und seine Gegenspieler
Stress war und ist immer überlebensnotwendig, aber gleichzeitig schädlich. Aus diesem Grund gibt es im Körper des Menschen zwei Gegenreaktionen. Dem Stressverarbeitungssystem stehen das interne Beruhigungssystem und das Bindungssystem gegenüber.
- Das interne Beruhigungssystem ist überwiegend der Neuromodulator Serotonin. Er hat mitunter eine beruhigende Wirkung und ist so als Gegenspieler von Cortisol von Bedeutung.
- Der zweite Gegenspieler von Cortisol ist das Neuropeptid Oxytocin, das Bindungshormon. Hierdurch werden Soziale Emotionen und Verhaltensweisen aller Art begünstigt, einschließlich Vertrauen und Empathie gegenüber angenehmen Sozialkontakten. Die Ausschüttung von Oxytocin fördert meist auch eine Ausschüttung von Serotonin. Es hat jedoch auch selbst stressmindernde Funktion.
Die Bedeutung der Verbundenheit
Selbstberuhigung und Bindung reduzieren also Stress. Hier wird Führung wichtig: Je mehr auf Distanz gearbeitet wird, umso wichtiger ist die Nähe durch die Führungskraft.
Gerald Hüther spricht in diesem Zusammenhang von zwei Grundmotivationen des Menschen Verbundenheit und Entfaltung und Gestaltung. Verbundenheit ist die Primärerfahrung eines jeden Menschen, weil er ganz am Anfang seiner Existenz, ohne verbunden zu sein, nicht hätte überleben können. Dieses Grundbedürfnis wird er nie wieder los. Dies muss die Führungskraft wissen und berücksichtigen, aber wie?
Ein erster Gedanke wäre vielleicht: ... am Anfang eines Online-meetings ein paar freundliche Worte zu sprechen, zu fragen, wie es geht, um dann schnell zur Sache zu kommen. Es geht ja schließlich um Umsatz und Gewinn. Als Chef bin ich ja nicht für's Wohlbefinden meiner Mitarbeiter*innen zuständig, da sollen sie sich selbst darum kümmern. Weit gefehlt. Zuständig nicht, aber es zahlt sich aus, denn glückliche Menschen haben Erfolg.
Angst nehmen, Zuversicht zeigen
Was können wir also tun? Die Idee ist denkbar einfach: Mensch sein. Mehr Ehrlichkeit, positive Fehlerkultur, die Angst nehmen und Zuversicht zeigen.
- Mehr Ehrlichkeit: Ehrlichkeit signalisiert Nähe, Floskeln sind distanziert. In komplexen Situationen kann ich auch als Chef nicht alles überblicken. Jede Entscheidung ist besser, als keine Entscheidung. Stehen sie zu Ihren Entscheidungen, auch wenn Sie manchmal falsch sind.
- Positive Fehlerkultur: Ein Fehler ist erst ein Fehler, wenn man ihn zum zweiten Mal macht. Davor ist er ein Lerngutschein. Leben Sie diese Fehlerkultur als Vorbild vor.
- Angst nehmen: Menschen wählen nicht das, was sie am liebsten haben, sondern Menschen wählen das, was sie am wenigsten fürchten. Nehmen Sie ihren Mitarbeiter*innen die Ängste.
- Zuversicht zeigen: Menschen vergessen das Gesagte, aber sie erinnern sich an das Gefühl. Signalisieren Sie ein gutes Gefühl, ein Vertrauen in Ihre eigenen Entscheidungen und in die Zukunft.
Bei diesen vier Aspekten ist es völlig egal, ob sie digital oder face to face stattfinden.
Komplexität – Unsicherheit = Chance
Diese vier Aspekte machen den Menschen in uns aus, denn wenn wir als Chef auch noch Mensch sind, ist die Nähe inkludiert. Wenn wir durch unsere Führung Unsicherheit absorbieren, haben die Mitarbeiter*innen den Kopf frei für Ihre eigentliche Aufgabe. Bringen wir es noch mal auf eine einfache Formel:
Komplexität – Unsicherheit = Chance
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